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Amnesie

    Amnesie oder auch Gedächtnisverlust bezeichnet eine inhaltlich oder zeitlich begrenzte Gedächtnislücke. Betroffen sind meist Langzeit- und episodisches Gedächtnis, wobei Kurzzeitgedächtnis sowie prozedurales Gedächtnis oft intakt bleiben. Amnesien treten im Zusammenhang mit verschiedenen Auslösern wie etwa organischen Erkrankungen, Vergiftungen, Unfällen oder traumatischen Erlebnissen auf. So kann ein seelischer Schock auch durch der Tod eines Menschen ausgelöst werden, wobei der Verlust des Gedächtnisses meist vorübergehend ist und  nur einige Teile der Erinnerung, wie das Kurzzeitgedächtnis betrifft. Diese Gedächtnisstörung setzt dabei plötzlich ein und dauert zwischen 1 und 24 Stunden, im Schnitt zwischen sechs und acht Stunden an. Für den Zeitraum der Symptomatik bleibt eine Gedächtnislücke bestehen. So erschreckend die Gedächtnisstörung für die Angehörigen und die Betroffenen auch ist, gilt sie doch als harmlos, denn in den meisten Fällen tritt sie nur einmalig auf. Etwa ein Fünftel erleiden eine weitere Episode, wobei das Rezidivrisiko bei 6 bis 10 Prozent pro Jahr liegt, doch langfristig bleiben keine neuropsychologischen Defizite zurück, und auch die Risiken für Demenz und Schlaganfall sind nicht erhöht.

    Man unterscheidet unter anderem folgende Formen:

    • Anterograde Amnesie bezieht sich auf die Unfähigkeit zur langfristigen Speicherung von neuen Informationen und betrifft also Geschehnisse nach einem schädigenden Ereignis, d. h., Betroffene haben Probleme, sich nach einer Verletzung an kürzlich Vorgefallenes zu erinnern, doch länger zurückliegende Dinge, können dennoch gut erinnert werden. Unter Alkoholikern ist diese Form der Amnesie häufig zu beobachten, was auf einen Vitamin-B-Mangel hinweist, der bei Alkoholikern sehr oft zu beobachten ist. Bei Alkoholikern führt eine Amnesie meist sehr schnell zu einer Demenzerkrankung.
    • Retrograde Amnesie bezeichnet  die Unfähigkeit, bereits gespeicherte Information abrufen zu können, betrifft also Geschehnisse vor einem schädigenden Ereignis. Das Gedächtnis kann bei Betroffenen innerhalb von Tagen, Wochen oder auch Monaten nach dem schädigenden Ereignis teilweise oder auch ganz wiederkehren.
    • Kongrade oder Kurz-Amnesie: Nicht-Erinnern an kurze Ereignisse ohne rückwirkende oder fortwirkende Gedächtnislücke. Ähnlich ist die
    • transitorisch, generalisierte Amnesie (auch transiente globale Amnesie): Bei einer solchen vorübergehenden Amnesie vergessen die Betroffenen plötzlich, wie sie an den Ort gekommen sind, an dem sie sich gerade befinden. Betroffene können sich zwar an den eigenen Namen und den der Familienangehörigen erinnern, aber nicht mehr an kurz zurückliegende Vorfälle.  Charakteristisch sind bei Betroffenen wiederkehrende Fragen zur Umgebung oder Situation, wobei das prozedurale Gedächtnis, also das Abrufen erlernter Fähigkeiten wie Autofahren, Telefonieren oder Klavierspielen, nicht beeinträchtigt ist. Etwa nach so einem Vorfall mit dem PKW nach Hause zu fahren oder einzuparken funktionier noch, und auch die Aufmerksamkeit ist nicht gestört, d. h., die Betroffenen sind wach und kontaktfähig. Diese Art der Amnesie findet man häufig bei älteren Menschen, aber eine solche transiente Amnesie kann aber auch nach einem Sprung ins kalte Wasser auftreten, weshalb sie im angelsächsischen Sprachraum auch als amnesia by the seaside benannt wird.
    • Traumatisierungen des Gehirns können aber auch rein psychogen verursacht (psychogene Amnesie) sein.

    Durch diese Vielzahl an Amnesien sind die zugrundeliegenden Hirnschäden oder vorübergehenden Funktionsunterbrechungen auch sehr unterschiedlich und können sowohl corticale wie subcorticale Regionen des Gehirns betreffen. Wie es zu einer solchen vorübergehenden Gedächtnisstörung kommt, ist ungeklärt, man geht aber von einem multifakto­riellen Geschehen aus, denn bei der Mehrheit der Betroffenen gehen Ereignisse der Symp­tomatik voraus, die als Auslöser infrage kommen. Dies sind emotional belastende Erlebnisse, körperliche Anstrengung, Geschlechtsverkehr oder auch ein Sprung ins kalte Wasser.


    Exkurs: Wie sich Erinnerungen überhaupt bilden
    Kurzzeit- und Langzeiterinnerungen sowie deklarative, d. h., bewusst wahrgenommene Informationen, und prozeduale Erinnerungen, d. h., unbewusst wahrgenommene Informationen, bilden sich auf unterschiedliche Art und Weise. Dabei sind auch verschiedene Hirnregionen dann am Erinnerungsprozess beteiligt, was bedeutet, dass Erinnerungen sich nicht in einem bestimmten Ort im Gehirn formen, sondern dass unterschiedliche Hirnregionen für die verschiedensten Erinnerungen zuständig sind: In der Amygdala werden emotionale Reaktionen wie Angst oder Wut abgelegt, im Striatum erlernte Fähigkeiten, der Hippocampus ist verantwortlich für das Entstehen, Speichern und Abrufen von deklarativen Erinnerungen, während der Temporallappen für die Bildung und Abrufung von Erinnerungen zuständig ist. Erinnerungen werden stets in Neuronengruppen, also mehr oder minder großen Zellverbänden, gespeichert, wobei diese Erinnerungen gleichzeitig mit Sinneserfahrungen verknüpfen, und je öfters diese Neuronengruppen aktiviert werden, desto überdauernder wird eine Erinnerung. Dafür werden synaptische Verbindungen verändert und somit die Erinnerungen stabilisiert. Beim Abrufen von Erinnerungen kommunizieren daher ebenfalls verschiedene Hirnregionen miteinander, vordringlich die Großhirnrinde, die für die Informationsverarbeitung zuständig ist, die Region für die Verarbeitung von Sinneseindrücken, und der mediale Teil des Temporrallappens, wobei im Moment des Erinnerns die Neruronenaktivität im medialen Temporallappen mit den Wellen in der Großhirnrinde synchronisiert werden.


    1. Definition
    „Vollständiger oder teilweiser Ausfall des Gedächtnisses. Partielle Amnesie […] bezeichnet einen meist funktional begründeten Gedächtnisausfall, bezogen auf einen umschriebenen Zeitabschnitt, eine Situation oder auf einen bestimmten Erlebnisbereich. Retroaktive Amnesie bezeichnet einen Gedächtnisausfall, der sich auf die einem Trauma oder Schockerleben unmittelbar vorangegangenen Ereignisse bezieht“ (Fröhlich, 1993, S. 52).
    2. Definition
    „[…] genaugenommen bezieht sich der Begriff auf einen völligen Gedächtnisverlust für vergangene Ereignisse. Tatsächlich wird er aber verwendet zur Bezeichnung einer allgemeinen Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich an Vergangenes zu erinnern, verursacht durch zeitweilige oder andauernde pathologische Prozesse, die organischer oder funktioneller Natur sein können. Der Begriff wird nicht für das Vergessen von Gedächtnisinhalten verwendet, die normalerweise mit der Zeit verblaßt sind“ (Hetherington, 1971, S. 79).
    3. Definition
    Als Amnesie bezeichnet man einen partiellen oder vollständigen Erinnerungsverlust der auf die Ereignisse in einer bestimmten Zeitperiode zurückzuführen ist. Man unterscheidet hier die retrograde und die anterograde Amnesie. Progressive Amnesie bezeichnet die fortschreitende Gedächtnisauflösung im Rahmen einer paralytischen oder senilen Demenz (vgl. Tewes & Wildgrube, 1992, S. 19).
    4. Definition
    Amnesie (gr.: mnesis, Gedächtnis) ist eine Sammelbezeichnung für den teilweisen oder gänzlichen, zeitlich begrenzten oder andauernden Gedächtnisverlust, verursacht durch eine Beeinträchtigung der Aufnahmefähigkeit oder infolge einer Hirnschädigung. Man unterscheidet insbesondere die anterograde Amnesie (Gedächtnisverlust für eine Zeitspanne nach dem schädigenden Ereignis), die retrograde Amnesie (Gedächtnisverlust für eine Zeitspanne vor dem schädigenden Ereignis) und congrade Amnesie (das schädigende Ereignis selbst wird vergessen) (vgl. Dorsch, Häcker & Stapf, 1994, S. 28).
    5. Definition
    Im Wörterbuch der Psychologie werden drei Definitionen zu diesem Begriff geboten. Die erste Definition bezeichnet Amnesie als eine zeitlich oder inhaltlich begrenzte Gedächtnislücke. Die zweite Definition beschreibt die infantile Amnesie als verdrängte Jugenderinnerungen. Die dritte Definition bezieht sich auf die verbale Amnesie, welche als das Vergessen einzelner Wörter definiert wird (vgl. Sury, 1967, S. 18).

    Amnesien nach einer Gehirnerschütterung

    Typischerweise ist bei einer Gehirnerschütterung das Kurzzeitgedächtnis betroffen, was bedeutet, dass etwa die Erinnerungen an die Zeit nach dem Unfall und eventuell kurz davor ausgelöscht werden. Dass auch das Langzeitgedächtnis betroffen ist, ist äußerst selten, denn Informationen wie Name, Beruf und Familie sind im Gehirn eingraviert und werden bei einer Amnesie als letztes gelöscht. Ausfälle im Langzeitgedächtnis nach einem Unfall deuten daher auf eine gravierendere Gehirnschädigung hin. In der Regel bleiben aber Handlungsroutinen wie Schwimmen und Radfahren erhalten, wobei das Gedächtnis auch bei stärkeren Schäden in den meisten Fällen irgendwann zurückkehrt.

    Interessantes zur anterograden Amnesie

    Im Film „Memento“ aus dem Jahr 2000 leidet der Hauptdarsteller Leonard an anterograder Amnesie und kann keine neuen Erlebnisse in sein Gedächtnis aufnehmen. Alles soeben Erlebte vergisst er wieder. Leonard versucht, dieses ständige Vergessen zu bekämpfen, indem er sich Erinnerungen wie Post-its auf seinen Körper tätowieren lässt und beschriftete Fotos von Personen macht. Der Film wird dabei aus Leonards Perspektive erzählt, der den Mörder seiner Frau sucht. Mit Leonard zusammen erlebt der Zuschauer die Aufklärung des Mordfalls in chronologisch umgekehrter Reihenfolge, denn während die narrative Ebene des Films rückwärts fließt, läuft der Film selbst chronologisch vorwärts. Leonard muss sich seine Identität  auf seinen eigenen Körper tätowieren, da er sich sonst nach wenigen Minuten an nichts mehr erinnern kann. Wenn diese kurzfristigen Erfahrungen nicht mehr zugänglich sind, weil das Gedächtnis nicht mehr funktioniert, muss Leonard sich immer wieder neu erfinden.

    Literatur
    Dorsch, F. Häcker, H. & Stapf, K. (1994). Dorsch Psychologisches Wörterbuch. Bern: Verlag Hans Huber.
    Fröhlich, W. (1993). dtv Wörterbuch zur Psychologie. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
    Hetherington, R. (1971). Lexikon der Psychologie Band 1. Freiburg: Verlag Herder.
    Sury, K. (1967). Wörterbuch der Psychologie und ihrer Grenzgebiete. Basel: Schwabe Verlag.
    Tewes, U. & Wildgrube, K. (1992). Psychologie-Lexikon. München: Verlag Oldenbourg.


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