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fotografisches Gedächtnis

    Fotografisches Gedächtnis ist die häufig fälschlicherweise verwendete Bezeichnung für das eidetische Phänomen, das  ein sehr starkes, gelegentlich nahezu perfektes visuelles Gedächtnis bezeichnet. Diese fehlerhafte Bezeichnung liegt vermutlich daran, dass zahlreiche Versuche von Forschern mit standardisierten Fotografien mit zahlreichen Objekten durchgeführt worden sind.

    Sperling (1960) zeigte  Versuchspersonen ein Feld von Buchstaben aus 1-3 Zeilen mit maximal 6 Buchstaben pro Zeile für die Dauer von 50 ms. Aufgabe der Versuchsperson war es, nach der Darbietung möglichst viele Buchstaben zu reproduzieren. Diese Methode wird Ganzbericht genannt, da die Versuchsperson alle Buchstaben berichten sollteb. Bei einer angebotenen Anzahl von 5-12 Buchstaben gelang es den Versuchspersonen, im Durchschnitt etwa 4.3 Buchstaben zu reproduzieren, unabhängig von der dargebotenen Anzahl. Die Reproduktionsleistung erwies sich als unabhängig von der Anordnung der Buchstaben (ein-, 2- oder 3-zeilig) und unabhängig von der Darbietungsdauer, sofern diese im Bereich zwischen 15 und 500 ms lag. Bei dem von Sperling entwickelten Teilbericht muss die Versuchsperson nur 1 von (mindestens) 2 angebotenen Zeilen reproduzieren, wobei welche Zeile berichtet werden soll,  der Versuchsperson unmittelbar nach der Darbietung durch ein akustisches Signal mitgeteilt wurde. Ein hoher Ton deutete an, dass die obere Zeile berichtet werden soll, ein mittlerer Ton steht für die mittlere (falls 3 Zeilen angeboten werden) und ein tiefer Ton steht für die untere Zeile. Der Ton setzte unmittelbar nach dem Ende der Buchstabendarbietung ein. Da die Versuchsperson vor dem Hinweissignal nicht weiß, welche der Zeilen reproduziert werden soll, stellt diese Methode eine Art Stichprobenentnahme aus der gesamten zur Verfügung stehenden Information dar, bei der die Kapazitätsbegrenzung des Reproduktionsvorganges ausgeschaltet ist. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse, dass bei dieser Methode erheblich mehr Buchstaben zur Reproduktion verfügbar waren als beim Ganzbericht. Von 6 gezeigten Buchstaben waren durchschnittlich 5.6 verfügbar. Wurden beim Ganzbericht von 12 Buchstaben durchschnittlich 4.3 reproduziert, so ergab sich beim Teilbericht eine mittlere Reproduktionsleistung von 9.1 Buchstaben. Man kann daraus schließen, dass unmittelbar nach der 50 ms dauernden Darbietung noch nahezu die vollständige Buchstabenmatrix zur Verfügung steht, um aus ihr die geforderte Zeile zu reproduzieren. Wurde das akustische Hinweissignal aber nicht unmittelbar nach der visuellen Darbietung gegeben, sondern verzögert, so nahm in Sperlings Experiment die Anzahl der reproduzierten Buchstaben ab. Bei einer Verzögerung von 150 ms konnten im Durchschnitt 7.2 von 9 Buchstaben und bei 500 ms noch 6 von 9 berichtet werden. Bei einer Verzögerung von 1 s erreichte die Reproduktionsleistung beim Teilbericht das Niveau des Ganzberichts. Sperling (1960) folgerte aus seinen Ergebnissen, dass die kurzzeitige optische Darbietung einige Zeit in einem visuellen Speicher erhalten bleibt, auch wenn keine Reize mehr vorhanden sind. Von diesem visuellen Speicher muss die Information in das Kurzzeitgedächtnis übertragen werden, um reproduziert werden zu können. Die Persistenz des visuellen Speichers ist aber nur kurz: Nach etwa 1 s ist der Inhalt des visuellen Speichers zerfallen, und alles, was bis dahin nicht in das Kurzzeitgedächtnis übertragen ist, ist verloren und kann nicht reproduziert werden.

    Die Wahrnehmungsprozesse, die den individuellen Unterschieden in der Gesichtserkennungsfähigkeit zugrunde liegen, sind noch wenig bekannt. Dunn et al. (2022) verglichen in einem Versuch das visuelle Sampling von erwachsenen Super-Recognizern mit dem von typischen erwachsenen Betrachtern, indem sie die Blickposition maßen, während sie unbekannte Gesichter lernten und erkannten. In beiden Phasen betrachteten die Teilnehmer Gesichter durch unterschiedlich große „Spotlight“-Öffnungen, wobei die Gesichtsinformationen in Echtzeit um ihren Fixationspunkt herum eingeschränkt wurden. Man fand bei allen Blendengrößen eine höhere Genauigkeit bei den Super-Recognizern, was zeigt, dass ihre Überlegenheit nicht von der globalen Erfassung von Gesichtsinformationen abhängt, sondern sich auch zeigt, wenn sie gezwungen sind, stückweise zu erfassen. Außerdem fixierten Super-Recognizer mehr Gesichter, konzentrierten sich weniger auf die Augenregion und verteilten ihren Blick mehr als typische Betrachter. Diese Unterschiede waren beim Erlernen von Gesichtern am deutlichsten und stimmten mit den Tendenzen überein, die man über das breitere Fähigkeitsspektrum hinweg beobachtet hatte, was darauf hindeutet, dass sie Faktoren widerspiegeln, die in der breiteren Population dimensional variieren.


    Kann man ein fotografische Gedächtnis erlernen?

    Ein solches fotografische Gedächtnis zu erlernen und sich an viele gesehene Details zu erinnern, ist nicht möglich, doch kann das menschliche Gedächtnis darin geübt werden, Interessen und starke emotionale Verknüpfungen zu einem Thema aufzubauen, dass mit der Zeit in ähnlichen Situationen mehr Informationen gespeichert werden können. Ein Ansatz, um eine Art fotografisches Gedächtnis zu entwickeln, sind Merkstrategien, wie sie etwa Gedächtnis-Profis nutzen.

    Übrigens: Schachmeister können sich zwar mühelos an Hunderte von Partien erinnern, was daran liegt, dass sie den Stellungen der Figuren eine große Bedeutung beimessen und in diesen Muster erkennen.


    Kurioses: Die schwedische Firma Memoto will mit einer kleinen Kamera und einem Cloud-Dienst den Menschen ein perfektes fotografisches Gedächtnis bieten. Möglich werden soll dies mit einer kleinen Kamera, die san eine Jacke oder einen T-Shirt-Kragen geklippt, alle 30 Sekunden ein Bild aufnimmt. Spezielle Algorithmen wählen dann aus dem Datenberg die interessantesten Fotos aus, um aus ihnen automatisch eine Dokumentation des eigenen Lebens und seiner wichtigsten Augenblicke zusammenzufügen (Life-Logging). Die Bilder lassen sich später von der Kamera auf einen Rechner oder einen Cloud-Dienst übertragen, wo die Aufnahmen von speziellen Algorithmen verarbeitet und gruppiert werden, etwa nach den dominanten Farben in den Fotos. Die Bildverarbeitung soll aus der Sammlung von allen Bildern vor allem aber jene Momente herausfiltern, die an einem Tag als besonders wichtig eingestuft werden. Das können etwa die Stunden sein, die man arbeitend vor dem Rechner verbracht hat, oder eine Kaffeepause mit Freunden, wobei jeder Moment wird mit einem prägnanten Bild dargestellt wird.


    Fotografie und Gedächtnis

    Immer mehr Menschen fotografieren in Museen die Kunstwerke mit ihrem Handy oder ihrer Digitalkamera, was übrigens auch für Touristen generell gilt, auch diese betrachten die besuchten Städte vorwiegend durch das Objektiv ihrer Kamera als mit freiem Auge. Zwei Untersuchungen in den USA (Henkel, 2014) zeigen jedoch, dass diese Angewohnheit der wahren Kunstbetrachtung eher im Weg steht, denn wer während eines Museumsbesuchs fotografierte, kann sich am nächsten Tag viel schlechter an die Bilder erinnern als jene BesucherInnen, die vor einem Kunstwerk in stiller Betrachtung verharrten. Das gilt vor allem für Bilddetails aber auch die Position im Museum. Erklärt wird das Ergebnis mit der aktiveren Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk.


    Kurioses: 2019 ging folgender Bericht durch die Medien: Ein japanischer Verkäufer soll sich rund 1300 Kreditkartendaten mittels fotografischem Gedächtnis beim Zahlungsvorgang gemerkt haben. Der 34-jährige Verkäufer arbeitete in einem Einkaufszentrum, wo er sich die 16-stelligen Kreditkartennummern, die Sicherheitsnummer sowie das Ablaufdatum während des Zahlungsvogangs gemerkt und später in einem Notizbuch notiert haben soll. Die gesammelten Kreditkartendaten nutzte der Mann dann, um Einkäufe im Internet zu bezahlen.


    Super Recognizer bei der Fahndung nach Kriminellen

    Seit neuestem stützen sich polizeiliche Ermittler auf Super Recognizer, das sind Fahnder mit Foto-Gedächtnis, die in der Lage sind, ein einmal erkanntes Gesicht nie mehr zu vergessen. Auf Bildern und Videos erkennen sie sofort Menschen wieder, die sie auf anderen Fahndungsunterlagen oder in natura schon gesehen haben. Und das gelingt selbst dann, wenn die Personen unscharf abgebildet oder gealtert sind. Dabei ist die Erkennung persönlich bekannter Gesichter extrem schnell, weitaus weniger fehleranfällig und bleibt von Computern ungeschlagen. Die Forschung dazu ist noch nicht weit fortgeschritten, doch immerhin glaubt zu wissen, dass viele Super Recognizer gut darin sind, Prominente anhand von deren Kinderbildern zu erkennen.
    Von der Universität von Greenwich gibt es einen online Test, mit dem man überprüfen kann, obwohl ein solcher Super Recognizer ist.
    Link: https://www.yahoo.com/health/are-you-a-super-recognizer-test-tells-if-youre-121678964207.html (15-11-21)

    Literatur

    Dunn, James D., Varela, Victor P. L., Nicholls, Victoria I., Papinutto, Michael, White, David & Miellet, Sebastien (2022). Face-Information Sampling in Super-Recognizers. Psychological Science, 33, doi: 10.1177/09567976221096320.
    Henkel, Linda A. (2014). Point-and-Shoot Memories: The Influence of Taking Photos on Memory for a Museum Tour. Psychological Science, 25, 396-402.
    Sperling, G. (1960). The information available in brief visual presentations. Psychological Monographs: General and Applied, 74, 1-29.
    http://irtel.uni-mannheim.de/lehre/propaed/ExpraBuchHTML/Kapitel5.htm (17-02-05)


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