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Lokomotion

    *** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Die Psychologie des Gehens bzw. der Lokomotion ist ein Teilaspekt der Psychomotorik und beschäftigt sich mit Bewegungsmustern und -leistungen des Menschen bei Ortsveränderung, etwa beim Gehen oder Laufen. Die Art der Lokomotion hängt dabei von der Geschwindigkeit der Fortbewegung ab, denn Menschen wechseln in der Regel bei einer Geschwindigkeit von etwa acht Kilometer in der Stunde vom Gehen zum Laufen.

    Die Abhängigkeit des Energieumsatzes von der Geschwindigkeit der Lokomotion ist für die unterschiedlichen Gangarten verschieden, denn unterhalb der kritischen Geschwindigkeit, an der der Wechsel erfolgt, ist er für das Laufen eher größer als für das Gehen, oberhalb der kritischen Geschwindigkeit aber kleiner. In Abhängigkeit von einer kontinuierlichen Variation in der Geschwindigkeit der Fortbewegung lassen sich ebenso qualitative Änderungen im Bewegungsmuster beobachten.

    Bei der Lokomotion führt jedes Bein eine periodische Bewegung aus, wobei die Periode vom Aufsetzen der Ferse bis zum nächsten Aufsetzen durch Dauer und Schrittlänge charakterisiert wird. Die Bewegungen der Beine gehen in der Regel mit koordinierten Bewegungen der Arme einher sowie mit periodischen Kippungen des Beckens. Die Geschwindigkeit des Gehens wird erhöht, indem Schrittlänge und Schrittfrequenz vergrößert werden. Das grundlegende Bewegungsmuster bei der Lokomotion wird erzeugt, ohne dass dafür sensorische Rückmeldungen aus der Körperperipherie erforderlich wären, doch sind für seine Modulation aber sensorische Informationen von ausschlaggebender Bedeutung, etwa beim Gehen auf einem unebenen Boden. Obwohl das Gehen ebenso wie das Stehen zunächst als eine elementare und vollständig automatisierte motorische Leistung erscheint, kann es doch durch gleichzeitige geistige Arbeit gestört werden.

    Jeder Mensch hat bekanntlich seine individuelle Art zu gehen, wobei die Gangart mehr über die Persönlichkeit aussagt, als bisher angenommen, denn sie ist nach verschiedenen Studien ein Indikator für den Gesundheitszustand und und die Persönlichkeit von Menschen. Die Persönlichkeit eines Menschen beeinflusst aber nicht nur die Geschwindigkeit beim Gehen, sondern sie hat auch Einfluss darauf, wie sich die Gangart eines Menschen im Laufe der Zeit verändert. Wer zu Fuß eher schnell unterwegs ist, der ist nicht nur offener, geselliger und verträglicher, sondern wird auch höchstwahrscheinlich im Alter nicht sehr viel langsamer werden. Es zeigte sich auch, dass zügige GeherInnen emotional stabiler sind. Wer hingegen langsam geht, ist eher anfällig für körperliche und mentale Krankheiten, wobei diese GeherInnen eher unter einer gestörten Wahrnehmung leiden und ein höheres Sterberisiko aufweisen. Hingegen zeigen langsame GeherInnen mehr Kooperationsbereitschaft, Rücksichtnahme und Empathie als schneller gehende (Stephan et al., 2018).

    Wie Untersuchungen zeigen, kann die Gehweise bzw. der Gang eines Menschen etwa darüber Auskunft geben, wie aggressiv jemand ist. In einer explorativen Studie wurden die Persönlichkeiten von Probanden über die Big Five (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit, Neurotizismus) bzw. deren erfasst, bevor mit Hilfe der Technologie Motion-Capture deren Art zu gehen auf einem Laufband in ihrer natürlichen Geschwindigkeit aufgenommen wurde. Durch Motion-Capturing können Bewegungen in ein Computer-Modell übertragen und genauer analysiert werden. Es zeigte sich, dass die übertriebene Bewegung des oberen und unteren Körpers auf Aggression hinweist, denn beim Gehen rotiert der Körper natürlicherweise ein wenig. Wenn der linke Fuß vorgesetzt wird, schiebt sich das linke Becken mit dem Bein vor, die linke Schulter geht zurück und die rechte Schulter vor, um dies auszubalancieren. Bei einer aggressiven Gangart wird diese normale Rotation übertrieben. Im Übrigens sind sich die Menschen normalerweise bewusst, dass es eine Verbindung zwischen der Gehweise und der Psychologie gibt, wobei diese Studie empirische Belege dafür liefert, dass die Persönlichkeit tatsächlich beeinflusst, wie wir gehen. So könnte die Identifikation der potenziellen Beziehung zwischen der biologischen Bewegung eines Menschen und seiner Absicht, aggressiv aufzutreten, bei der Prävention von Verbrechen helfen. Wenn etwa Videoüberwachungssysteme geschult werden könnten, diese Aggressivität beim Gehen festzustellen, würde deren Fähigkeit verbessert, drohende Verbrechen zu erkennen (Satchell et al., 2017).

    Die Disziplin der Psychologie des Gehens setzt sich aber auch mit der grundsätzlichen Frage auseinander, was etwa Menschen eigentlich vom Gehen abhält, warum sie welche Umwelten als angenehm oder gehfeindlich empfinden, welche Faktoren für Verhaltensänderungen im Mobilitätsbereich tatsächlich ausschlaggebend sind, welche emotionalen Erfahrungen mit dem Gehen verbunden werden und wie politische Entscheidungsträger für eine Wiederentdeckung des bewussten Gehens und auch Flanierens gewonnen werden können.

    Seit Prähominiden vor rund drei Millionen Jahren ihr Habitat in den Baumkronen Afrikas verlassen haben, ist das Gehen die bevorzugte Fortbewegungsart unserer Spezies. Aufrecht auf zwei Beinen den Blick in Weite schweifen lassen, gehend und laufend große Distanzen zurücklegen und dabei stets den Überblick bewahren – der evolutionäre Vorteil des aufrechten Ganges hat uns Menschen zu dominanten Natureroberern gemacht. Nach Jahrtausenden des Gehens und schließlich der Nutzung tierischer Kraft für menschliche Fortbewegung haben sich seit der Hochblüte der Industriellen Revolution immer stärker motorisierte Formen der Mobilität verbreitet, die heute, vor allem auch aufgrund ihrer klimafeindlichen Auswirkungen, zusehends in Frage gestellt werden. Im 20. Jahrhundert sind Städte nicht um gehende Menschen, sondern um fahrende Autos herumgebaut worden, und auch öffentliche Verkehrsmittel verfolgen den Zweck, uns Menschen den Einsatz von Muskelkraft für die Fortbewegung bestmöglich zu ersparen.

    Fragen einer Psychologie des Gehens sind etwa: In welchen Situationen, in welchen Umwelten ist für Menschen das Gehen längerer Strecken angenehm oder eine Belastung? Wie sollten Städte der Zukunft gestaltet sein, um dem Gehen wieder mehr Platz einzuräumen? Stimmt es, dass Fußgänger keine Lobby haben, und wenn ja – wie könnte diese aussehen? Was verbinden Menschen persönlich mit der oft kolportierten Feststellung, dass Menschen in Industrieländern viel zu selten ausgiebig gehen?

    Historischer Hinweis: Lokomotion bezeichnet ursprünglich die Fortbewegung frei beweglicher Organismen aus eigener Kraft. In der topologischen Psychologie nach Kurt Lewin bezeichnet Lokomotion eine vom Individuum in einer bestimmten Situation tatsächlich gewählte Verhaltensalternative.

    Literatur

    Risser, R. & Sucha, M. (2020). Psychological Perspectives on Walking. Interventions for Achieving Change. London, New York: Routledge.
    Satchell, L., Morris, P., Mills, C., O’Reilly, L., Marshman, P. & Akehurst, L. (2017). Evidence of Big Five and Aggressive Personalities in Gait Biomechanics. Journal of Nonverbal Behavior, 41, 35-44.
    Stephan, Y., Sutin, A. R., Bovier-Lapierre, G., & Terracciano, A. (2018). Personality and Walking Speed Across Adulthood: Prospective Evidence From Five Samples. Social Psychological and Personality Science, 9, 773–780.
    https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/lokomotion/8964 (17-11-12)


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