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prospektives Gedächtnis

    Leben ist das, was passiert,
    während Du dabei bist,
    andere Pläne zu schmieden.
    John Lennon

    Zukunftsforschung ist die Kunst,
    sich zu kratzen, bevor es einen juckt.
    Peter Sellers

    Kurzdefinition: Unter dem prospektiven Gedächtnis versteht man die Fähigkeit, sich zur richtigen Zeit selbständig daran zu erinnern, eine geplante Handlung auszuführen, etwa einen vereinbarten Termin wahrzunehmen. Dieses Gedächtnis für Intentionen spielt im Alltag eine bedeutende Rolle, denn es liegt jeder Art von planvollem und zukunftsgerichtetem Handeln zugrunde. Das prospektive Gedächtnis ist somit auf die Zukunft gerichtet, wobei es daher nicht um das Erinnern an das geht, was war, sondern um das, was vor einem liegt, etwa an eine Verabredung für den nächsten Tag zu denken und diese zu planen. Der Begriff prospektives Gedächtnis beschreibt also die Fähigkeit, sich zur richtigen Zeit an zuvor gefasste Handlungsabsichten zu erinnern.

    Das prospektive Gedächtnis bezeichnet somit ein Zusammenspiel jener kognitiven Fähigkeiten, die daran beteiligt sind, intendierte Handlungen zu planen und sie später zur adäquaten Gelegenheit selbständig zu realisieren. Unter dem prospektiven Gedächtnis versteht man demnach die im Alltag wichtige Fähigkeit, absichtsvoll zu planen und nach zeitlicher Verzögerung selbstständig diese erarbeiteten Pläne auch durchzuführen. Dieses selbständige, verzögerte Realisieren von Intentionen wurde wiederholt als eine der wichtigsten alltäglichen Gedächtnisfunktionen identifizier, z. B. das Einhalten von Terminen oder das rechtzeitige Einnehmen von Medikamenten). Die Entwicklung der prospektiven Erinnerungsleistung ist eine wesentliche Voraussetzung für ein effektives, selbstinitiiertes Lernen und damit auch für die Entwicklung von Selbständigkeit. Daten zeigen, dass das ereignisbasierte Erinnern bei Vorschulkindern und sogar bei 2-jährigen Kindern in Ansätzen vorhanden ist, sich dieses aber über das Kindes- und Jugendalter noch weiter verbessert. Kleinere Kinder haben vor allem Probleme mit dem selbstinitiierten Ausführen einer intendierten Handlung, insbesondere, wenn die prospektive Aufgabe strategische Anforderungen stellt. Der über das Kindesalter hinweg zunehmende Einsatz von Gedächtnishilfen verhilft älteren Kindern dann zu besseren prospektiven Gedächtnisleistungen, wobei sich das zeitbasierte prospektive Gedächtnis zwischen dem 6. und 14. Lebensjahr besonders entwickelt, vor allem darin, dass Kinder zunehmend in der Lage sind, ein effizientes Zeitmonitoring einzusetzen. Das zeitbasierte prospektive Gedächtnis scheint sich erst nach dem ereignisbasierten zu etablieren, da die zeitbasierten Aufgaben oft ein hohes Maß an strategischen Prozessen und exekutiver Kontrolle benötigen.

    Die Zukunft im Kopf durchzuspielen ist übrigens eine zentrale Fähigkeit des Menschen, die sein gesamtes Handeln bestimmt, wobei selbst kleinste Entscheidungen dadurch getroffen werden, indem man im Geist durchspielt, was sein könnte, etwa wenn man müde am Schreibtisch sitzt und sich fragt, ob man sich nach einer Tasse Kaffee besser fühlen würde. Man geht davon aus, dass Kinder ab einem Alter von drei bis fünf Jahren beginnen, über die Zukunft nachzudenken, denn sie fangen ab diesem Zeitpunkt an, über kommende Ereignisse zu sprechen. Bis diese Fähigkeit bei ihnen vollständig ausgeprägt ist, dauert es etwa bis zum Alter von sieben bis zehn Jahren, denn erst dann können sie sich detaillierte Szenarien vorstellen, wobei diese im Vergleich mit Erwachsenen natürlich stärker auf allgemeine Informationen als auf persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen zurückgreifen können. Das hängt auch damit zusammen, dass die neuronalen Strukturen und kognitiven Fähigkeiten, die für das episodische Erinnern wichtig sind, bei ihnen noch nicht vollständig ausgebildet sind, denn das Gehirn schaut beim Blick in die Zukunft grundsätzlich erst in die Vergangenheit und greift auf zwei verschiedene Arten von Gedächtnisinhalten zurück: Zum einen auf unser semantisches Wissen, das allgemeine und abstrakte Fakten umfasst, zum andern spielt unser episodisches Gedächtnis eine wichtige Rolle, in dem persönliche Erlebnisse abgespeichert sind. Hinzu kommt noch das Arbeitsgedächtnis, denn erst hier werden die Informationen vorübergehend abgelegt und manipuliert.

    Das prospektive Gedächtnis ist also konkret dafür zuständig, dass Menschen sich daran erinnern, ein Vorhaben in der Zukunft in die Tat umzusetzen, Termine und Vereinbarungen einzuhalten. Möschl. et al. (2020) haben in einer Metastudie untersucht, was mit der Handlungsabsicht im Gehirn passiert, nachdem diese Absicht erfolgreich ausgeführt wurde, also ob Absichtsrepräsentationen nach ihrer Vollendung aus dem Gedächtnis deaktiviert werden. Während frühe Studien eine schnelle Deaktivierung oder sogar Hemmung abgeschlossener Absichten annehmen, deuten neuere Studien meist darauf hin, dass Absichten auch nach dem Abschluss weiterhin abgerufen werden und die nachfolgende Leistung beeinflussen können. Das geschieht vor allem dann, wenn Handlungen bis zu einem bestimmten Ereignis oder einem besonders auffälligen Reiz aufgeschoben wurden. Ein Beispiel dafür ist etwa die Einnahme von Medikamenten, wobei gerade ältere oder kranke Menschen, die in ihrem Alltag häufig Medikamente einnehmen müssen, die Einnahme bis zu einem bestimmten Signal, etwa einem Kalenderalarm, verschieben. Wenn die Menschen nach der Medikamenteneinnahme diesem Reiz erneut begegnen, kann es passieren, dass sie die Absicht, das Medikament zu nehmen wieder abrufen, wobei im schlimmsten Fall das Medikament erneut eingenommen wird. Allerdings sind derartige Fälle eher selten, denn Handlungsabsichten werden tatsächlich oft deaktiviert, sobald sie erledigt wurden. Diese Deaktivierung funktioniert aber nicht immer perfekt wie das Ein und Aus eines Lichtschalters. sondern zum Teil müssen Schritt für Schritt alte Verbindungen aufgelöst und neue aufgebaut werden, bis Ereignisse oder Reize nicht mehr zum Abruf der erledigten Absicht führen. Obwohl sich diese beiden Erklärungen von Nacheffekten theoretisch gegenseitig auszuschließen scheinen, zeigt sich in dieser Metastudie, dass diese beiden Erklärungen zwei Seiten derselben Medaille sein könnten. Das bedeutet nicht anderes, als dass die Deaktivierung von Absichten und das Auftreten von Nacheffekten durch eine Vielzahl von Faktoren moduliert werden, die entweder eine schnelle Deaktivierung begünstigen oder zu einem fortgesetzten Abruf abgeschlossener Absichten führen.

    Bisherige Studien zum prospektiven Gedächtnis untersuchten vor allem, unter welchen Bedingungen es dem Menschen leicht fällt, an seine eigenen Pläne zu denken. In einer aktuellen Studie erforschen Wissenschaftler der Universität Mannheim, wie junge und alte Menschen diesen Mechanismus unterdrücken, also eine bereits geplante Handlung verwerfen, was eine völlig neue Perspektive in der Gedächtnisforschung darstellt. Studien aus den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts zeigen, dass das prospektive Gedächtnis weniger durch das Altern beeinträchtigt wird als andere Hirnfunktionen, aber andere Untersuchungen kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Mannheimer Wissenschaftler gehen von der Annahme aus, dass das prospektive Gedächtnis bei älteren Menschen tatsächlich eingeschränkt ist. „Wir wissen, dass mit steigendem Alter die Leistung des Frontalhirns abnimmt. Dieses Gehirnareal ist aber für das prospektive Gedächtnis ganz besonders wichtig“, erklärt Professor Meiser. Um dennoch weniger zu vergessen, gibt es für ältere aber auch junge Menschen nützliche Hilfen, wie sich beispielsweise die gewünschte Situation in der Zukunft bildlich vorzustellen. „Je spezifischer das Bild ist, desto leichter fällt es uns später daran zu denken“, sagt Diplom-Psychologe Jan Rummel, der die Studie durchführt. „Das heißt, wenn wir uns daran erinnern möchten, nach der Arbeit noch Milch zu kaufen, sollten wir uns ganz genau vorstellen, wie wir dort hinfahren, in den Supermarkt gehen, vor dem Regal stehen und die Milch rausholen.“ Das sei neben der Verwendung von externen Hilfen wie Terminkalender oder Merkzettel eine sehr effektive Strategie.

    Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass prospektive Gedächtnisfehler mehr als die Hälfte der alltäglichen Gedächtnisprobleme über die Lebensspanne ausmachen und für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Unterschieden wird es im Allgemeinen vom Abruf zuvor gelernter Informationen, vom retrospektiven Gedächtnis. Das prospektive Gedächtnis beruht auf vielen kognitiven Funktionen, die über das retrospektive Gedächtnis hinausgehen. Es beruht auch auf retrospektiven Gedächtnisprozessen, erfordert jedoch zusätzlich den Einsatz weiterer kognitiver Ressourcen wie zum Beispiel zentralexekutive Kontrollprozesse. Dieses psychologische Konstrukt wird erst seit Kurzem untersucht und ist deshalb noch nicht eingehend erforscht.

    Bekannt ist aber, dass seine Leistungsfähigkeit bei verschiedenen Erkrankungen beeinträchtigt ist, etwa bei Menschen, die am Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) oder an einer Autismus-Spektrums-Störung leiden. Menschen mit ADHS handeln häufig impulsiv und unüberlegt und haben Schwierigkeiten, verschiedene Aufgaben zu strukturieren und zu koordinieren sowie Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Insbesondere die vorausschauende Planung stellt eine große Herausforderung dar, da das Handeln und Denken meist auf „Hier und Jetzt“ bezogen werden, wobei Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung ähnliche Probleme bei alltäglichen Handlungen haben, da es ihnen schwer fällt, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bearbeiten bzw. deren Ausführung zu koordinieren und zu strukturieren, sodass es zu Handlungsfehlern im Alltag kommt und überhaupt vergessen wird, beabsichtigte Handlungen auszuführen.

    Waldum & McDaniel (2016) vermuten auf Grund ihrer Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen chronischem Zuspätkommen und der Fähigkeit, Zeitspannen korrekt einschätzen zu können, denn es zeigte sich, dass das zeitbasierte prospektive Gedächtnis bei Menschen unterschiedlich gut ausgebildet ist. Probanden wurden dabei Aufgaben gestellt, die sie in einer gewissen Zeit absolvieren mussten, wobei sich diese die Zeit selber einteilen mussten. Zwar wurde ihnen erlaubt, vor Beginn der Aufgabe auf die Uhr zu schauen, doch durch die stressige Situation vergaßen viele jedoch darauf. Es zeigte sich, dass Menschen mit einem gut funktionierenden prospektiven Gedächtnis öfter auf die Uhr schauten und sich nicht auf ihr Zeitgefühl allein verließen. Auch konnten sie besser abschätzen, wie lange eine bestimmte Aufgabe dauert.

    Ein Beispiel für das prospektive Gedächtnis

    Wer etwas mit einem Freund besprechen will und vor dem Schlafengehen nochmals daran denkt, diesen am nächsten Tag bei einem Kaffee zu treffen, wird beim Anblick eines Cafes schon an die Absicht erinnert werden, auch wenn er sich nicht vorgenommen hat, genau hier mit dem Freund zu sprechen. Diese Verbindung zwischen Raum und Gespräch bezeichnet man auch als schwache Assoziation bzw. eben als prospektives Gedächtnis, das Dinge betrifft, die sich erst in Zukunft ereignen werden, an die man aber vorausblickend bereits denkt. Vermutlich dürfte der Hippocampus während des Schlafs bestimmte Erinnerungen, also etwa den Vorsatz, in Zukunft etwas Bestimmtes erledigen zu wollen, ohne Repetition in den Langzeitspeicher des Gehirns verschieben, von wo aus diese Information am nächsten Tag wieder abgerufen werden können (vgl. Scullin & McDaniel, 2010).

    Literatur

    Kliegel, M. & Jäger, Th. (2006).Die Entwicklung des prospektiven Gedächtnisses über die Lebensspanne. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 38, 162-174.
    Möschl, M., Fischer, R., Bugg, J. M., Scullin, M. K., Goschke, T., & Walser, M. (2020). Aftereffects and deactivation of completed prospective memory intentions: A systematic review. Psychological Bulletin, 146, 245–278.
    Scullin, Michael & McDaniel, Mark (2010). Remembering to Execute a Goal. Sleep on It! Psychological Science.
    WWW: http://pss.sagepub.com/content/early/2010/06/02/0956797610373373.abstract 89.
    Waldum, E. R. & McDaniel, M. A. (2016). Why are you late? Investigating the role of time management in time-based prospective memory. J Exp Psychol Gen., 145, 1049-1061.
    http://idw-online.de/pages/de/news431784 (11-07-09)


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    Ein Gedanke zu „prospektives Gedächtnis“

    1. TU Dresden

      Psychologen der TU Dresden führen derzeit Studien zum Erinnern von Absichten von Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung und Menschen mit ADHS durch, wobei das Ziel dieser Studie ist es, jene Mechanismen zu erforschen, die der Unterdrückung von Handlungen und dem Erinnern und Ausführen von Absichten zugrunde liegen, um so Ansatzpunkte für mögliche Interventionen abzuleiten. Dafür werden noch TeilnehmerInnen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren gesucht: Interessenten melden sich bitte bei Dr. Mareike Altgassen oder Andrea Koch (Telefon: 0351 463-36274, E-Mail: altgassen@psychologie.tu-dresden.de oder Andrea.Koch2@mailbox.tu-dresden.de).

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