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Neurogenese

    Vorbemerkung: Auch wenn heute in vielen mehr oder minder wissenschaftlichen Diskussionen die Neurogenese gehyped wird – siehe unten unter Kurioses -, muss man nach aktuellem Forschungsstand davon ausgehen, dass Nervenzellen im Laufe des Lebens nicht in wesentlichem Umfang neu entstehen, d. h., dass geschädigte oder zerstörte Neuronen in aller Regel nicht durch neue ersetzt werden. Vielmehr übernehmen die übrig gebliebenen Nervenzellen deren Aufgaben, wobei diese Aufgabenübernahme durch Synapsenbildung erfolgt, also durch neue Verknüpfungen mit anderen Zellen.

    Neurogenese ist die Bildung von Nervenzellen aus bestimmten Stamm- oder Vorläuferzellen bezeichnet, wobei man zwischen Neurogenese während der Embryonalentwicklung und Neurogenese nach der Geburt unterscheidet. Bis vor einigen Jahren galt Neurogenese im menschlichen erwachsenen zentralen Nervensystem als völlig ausgeschlossen, selbst wenn bekannt war, dass bei verschiedenen Tieren wie bei einigen Singvögeln im Gehirn auch nach der Geschlechtsreife weiterhin Nervenzellen gebildet werden. Neuere Untersuchungen zur Neurogenese zeigen jedoch, dass es selbst in hohem Alter beim Menschen wie auch bei anderen Säugetieren zu einer Vermehrung neuronaler Stammzellen und zur Bildung neuer Nervenzellen kommen kann, wobei die Bildung neuer Zellen bei Tieren meist sowohl von geistiger als auch von körperlicher Aktivität abhängig ist.

    In verschiedenen alten Hirnregionen aus der Frühzeit der Evolution – etwa dem Riechsystem, dem Hippocampus und der Amygdala – hatte man schon bei erwachsenen Primaten neugebildete Neuronen nachweisen können. Die entwicklungsgeschichtlich neuere Großhirnrinde, der größte und komplexeste Teil des Hirns, galt bisher als Ausnahme für die Selbstregenerierung. Vermutlich wird auch die adulte Neurogenese beim Menschen auf gleiche Art und Weise reguliert, etwa bei Informationsverarbeitung im Hippocampus. Grundsätzlich sind aber die Zellen des Gehirns beim erwachsenen Menschen fest miteinander verknüpft und strukturiert, denn schließlich benötigt das Hirn eine stabile stützende Struktur um Erinnerungen zu speichern und abrufbar zu machen. In „Nature“ berichtet die amerikanische Forscherin Sherre Florence (Vanderbilt Universität), dass im Gehirn von Affen Nervenzellen nach einem neurologischen Schaden die Reichweite ihrer Ausläufer (Dendriten) verdoppelt haben. Die untersuchten Affen wiesen Verletzungen auf, die eine Signalübertragung der sensorischen Nervenbahnen der Hand zur Großhirnrinde nicht mehr ermöglichten. Die im Gehirn (Cortex) betroffenen Nervenzellen suchten sich daraufhin neue Aufgaben. Mit Hilfe von bildgebenden Untersuchungsverfahren fand Florence heraus, dass die anfänglich „arbeitslosen“ Zellen Verbindungen zu weiter entfernt gelegenen Neuronen aufgenommen hatten. Die neuen Kontakte schienen voll funktionsfähig zu sein, was ein verändertes Aktivitätsmuster der betroffenen Hirnareale zeigte.

    Bis Ende des vorigen Jahrtausends hielt sich das Dogma, dass im Gehirn von Erwachsenen keine neuen Nervenzellen mehr entstehen könnten und dass sich die Zahl der Neurone im Laufe des Lebens permanent verringert.  1998 gelang Thomas Björk-Erikssonder Nachweis der Neubildung von Nervenzellen bei Erwachsenen im Gehirn von verstorbenen Krebspatienten, die radioaktiv markierte DNA-Bausteine injiziert bekommen hatten, um das Tumorwachstum verfolgen zu können, wobei sich im Gehirn markierte Neurone fanden, was belegte, dass neue Gehirnzellen entstanden waren.

    Nach derzeitigem Kenntnisstand gibt es im adulten Gehirn vor allem zwei Regionen, in denen Neurogenese stattfindet: im Bulbus olfactorius  und dem Hippocampus, der für Lern- und Gedächtnisvorgänge wichtig ist. Vermutlich entstehen neue Nervenzellen vor allem bei Beanspruchung der entsprechenden Areale, d.h., dass etwa  fremde Gerüche die Neurogenese im Riechkolben stimulieren. Bleiben solche Lernreize und Anregungen aus, gehen die neu entstandenen Hirnzellen jedoch wieder zu Grunde und reifen nicht zu funktionstüchtigen Neuronen heran. Offen ist auch die Frage, warum etwa gerade motorische Aktivität zu einer gesteigerten Neurogenese im Hippocampus führt, also einer Struktur mit vornehmlich kognitiven Funktionen, und welche Mechanismen diesem Prozess zugrunde liegen. Adusumilli et al. (2020) haben am Mausmodell nachgewiesen, dass neurale Stammzellen im Vergleich zu ausgewachsenen Nervenzellen in einem hohen Maße freie Radikale enthalten, und zwar insbesondere dann, wenn die Stammzellen im Ruhezustand sind, sich also nicht teilen und nicht gerade zu Nervenzellen fortentwickeln. Ein weiterer Anstieg in der Konzentration der Radikale versetzte die Stammzellen in Teilungsbereitschaft, d. h., die Sauerstoffverbindungen wirken wie ein Schalter, der die Neurogenese in Gang setzt. Diese Ergebnisse zeigen also, dass freie Radikale für das Gehirn nicht grundsätzlich schlecht sind, sondern sorgen dafür, dass das Gehirn lebenslang anpassungfähig bleibt und gesund altern kann.

    Die Neurogenese läuft nach zahlreichen Untersuchungen am adulten Gehirn sowohl unter normalen physiologischen als auch unter pathophysiologischen Bedingungen ab, und kann durch verschiedene exogene und endogene Faktoren moduliert werden, wobei die zugrundeliegenden Mechanismen noch weitgehend ungeklärt sind. Zahlreiche Studien beschäftigten sich in den vergangenen Jahren mit dem aktivitätsabhängigen Einfluss auf die Neurogenese unter physiologischen Bedingungen, allerdings ist über die aktivitätsabhängige Modulation neuer Nervenzellen unter pathophysiologischen Bedingungen nur wenig bekannt.

    Es gibt auch die Vermutung, dass der Prozess der Schwangerschaft und der Kindererziehung durch das Wiederholen neuer, positiv emotional besetzter Handlungen die Neurogenese im Gehirn anstoßen könnte. Mittels der funktionellen Kernspintomografie konnte man angeblich Zuwächse in einigen Hirnarealen in  den Bereichen für emotionale Intelligenz, Sinneswahrnehmung, geistige Auffassung, Motivation, Aufmerksamkeit, Problemlösung, Setzen von Prioritäten, Gedächtnis und Lernen zeigen. Diese Zuwächse sind angeblich auch nicht nur vorübergehend, sondern einiges soll darauf hindeuten, dass diese Veränderungen im Gehirn, die durch die Schwangerschaftshormone und danach durch die Anregung bei der Betreuung und Erziehung der Kinder ausgelöst werden, über das restliche Leben erhalten bleiben. Allerdings dürfte es sich in diesem Fall weniger um Neurogenese handeln, sondern um eher durch individuelle Herausforderungen ausgelöste Lernprozesse, die sich in den genannten Gehirnregionen niederschlagen.

    Es ist daher fraglich, ob Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen in Zukunft von diesen Erkentnissen profitieren, nichtsdestoweniger suchen Pharmaunternehmen  derzeit nach Substanzen, die eine Neubildung von Nervenzellen stimulieren und somit den Untergang von Neuronen ausgleichen könnten. Auch die Annahme, dass Sport  die Gehirnentwicklung bzw. -regeneration beeinflusst wurde bisher nur an Mäusen nachgewiesen, wobei sich die Ergebnisse wohl nicht unmittelbar auf den Menschen übertragenlassen. Immerhin handelt es sich bei den Forschungen um aktuell sprudelnde Geldquellen für einschlägige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen 😉

    Bei der posthumen Untersuchung von Menschen, die einen Schlaganfall erlitten hatten und an nichtneurologischen Ursachen verstorben waren, wurde mit Hilfe der Radiokarbonmethode das Alter der Nervenzellen in gesunden wie auch vom Schlaganfall betroffenen Arealen des Cortex bestimmt. Dabei stellte man, dass die Neuronen genauso alt waren wie die Patienten selbst, d. h., es gibt im Cortex offensichtlich keine nennenswerte Neubildung von Nervenzellen. Man hatte zunächst ja gehofft, dass die Neurogenese die Rehabilitation nach einem Schlaganfall auch im so wichtigen Neocortex unterstützt, doch ist das offenbar nicht der Fall, sodass die Wiederherstellung von verlorenen Gehirnfunktionen nach einem ischämischen Schlaganfall im Cortex vermutlich auf Plastizitätseffekte des Gehirns zurückgehen dürfte. Allerdings könnten geschädigte Nervenzellen ihr Erbgut reparieren und so überleben.

    Doch keine Neurogenese im Alter?

    Die oben geschilderte gängige Lehrmeinung, dass im Hippocampus bis ins hohe Alter neue Nervenzellen gebildet werden, wird in einer neueren Untersuchung infrage gestellt. Sorrells et al. (2018) konnten im Gehirn von erwachsenen Menschen und Affen keine neuen Nervenzellen nachweisen, denn bei der Untersuchung des Hirngewebes von Verstorbenen und von Epilepsiepatienten, denen das Gewebe bei einer Operation entnommen worden war, versuchte man, neuronale Stammzellen mit verschiedenen Markern sichtbar zu machen. Zum Zeitpunkt der Geburt fanden sie in einer Subregion des Hippocampus noch mehr als 1600 neugebildete Zellen pro Quadratmillimeter, bei Kindern im Alter von einem Jahr waren es noch knapp 300 und mit sieben Jahren noch 12. Im Gehirn von Erwachsenen fanden sich hingegen keine mehr. Man schliesst jetzt daraus, dass die Neurogenese schon in der Kindheit rasch abnimmt und bei Erwachsenen praktisch nicht mehr vorkommt. Man vermutet nun, dass die bisherigen Studien zur Neurogenese zu fehlerhaften Ergebnissen gekommen sind.

    Jonas Frisén vom Karolinska Institut in Stockholm, dessen Team 2013 die Neurogenese im Hippocampus Erwachsener quantifiziert hatte, ist von dieser aktuellen Studie nicht überzeugt, denn die täglich neugebildeten Neuronen kämen unter den Millionen existierenden Hippocampuszellen einer Nadel im Heuhaufen gleich: „Vielleicht haben sie einfach nicht genau genug nachgesehen.“ Zweifel äußerte auch Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla: „Neurogenese ist ein Prozess, kein Ereignis. In der Studie wurde aber nur totes Gewebe in einem bestimmten Moment untersucht.“

    Im Alter stören Immunzellen die Neurogenese

    Neuere Untersuchungen (Dulken et al., 2019) zeigen, dass Immunzellen auch unerwünschte Reaktionen wie Allergien auslösen und einige von ihnen scheinen in Stammzellnischen des alternden Gehirns vordringen zu können und stören dort möglicherweise die Neurogenese. Dies könnte erklären, warum diese für Lernen und Gedächtnis wichtige Neubildung von Gehirnzellen im Alter zunehmend gestört ist, wobei allerdings die Ursache für diese Blockadewirkung der Immunzellen allerdings noch unbekannt ist. Diese Immunzellen sollten wegen der Blut-Hirn-Schranke gar nicht so leicht in das gesunde Gehirn gelangen, doch können sie zumindest in das gesunde, alternde Gehirn vordringen und dort genau die Regionen erreichen, wo neue Neuronen entstehen. Weitere Experimente zeigten, dass die Invasion der Immunzellen in die subventrikuläre Zone mit einer verringerten Zahl proliferationsfähiger neuronaler Stammzellen einhergeht, wobei Gewebeuntersuchungen an Gehirnen menschlicher Verstorbener einen ähnlichen Zusammenhang zeigten, sodass die Vermutung naheliegt, dass die Immunzellen die Neubildung von Gehirnzellen stören.


    Kurioses: In einem Newsletter unter dem etwa irritierenden Titel „Laut Neurochirurg: 3 Tricks, mit denen du neue Gehirnzellen aktivierst“ fand sich die Aussage: „Nicht nur deine Muskeln, auch dein Gehirn möchte regelmäßig trainiert werden. Mit drei einfachen Tricks kannst du deine Gehirnleistung nicht nur aufrecht erhalten, sondern sogar neue Gehirnzellen aktivieren.“ Es wird dann berichtet, dass der Autor des Buches ‚Neurofitness‚ in einem Blog drei simple Methoden nennt, mit denen jeder sein Gehirn effektiv trainieren kann. Dadurch soll das Gehirn nicht nur die Fähigkeit erlangen, vorhandene Neuronen neu zu ordnen und zu reaktivieren, sondern es kann sogar ganz neue neuronale Verknüpfungen herstellen. Diese drei Tricks sind dann „Benutze deine nicht dominante Hand„, „Lerne eine neue Sprache“ und „Schalte das Navi aus“ 😉


    Literatur

    Adusumilli, Vijay S., Walker, Tara L., Overall, Rupert W., Klatt, Gesa M., Zeidan, Salma A., Zocher, Sara, Kirova, Dilyana G., Ntitsias, Konstantinos, Fischer, Tim J., Sykes, Alex M., Reinhardt, Susanne, Dahl, Andreas, Mansfeld, Jörg, Rünker, Annette E. & Kempermann, Gerd (2020). Dynamics Delineate Functional States of Hippocampal Neural Stem Cells and Link to Their Activity-Dependent Exit from Quiescence. Cell Stem Cell, doi:10.1016/j.stem.2020.10.019.
    Dulken, Ben W., Buckley, Matthew T., Navarro Negredo, Paloma, Saligrama, Naresha, Cayrol, Romain, Leeman, Dena S., George, Benson M., Boutet, Stéphane C., Hebestreit, Katja, Pluvinage, John V., Wyss-Coray, Tony, Weissman, Irving L., Vogel, Hannes, Davis, Mark M. & Brunet, Anne (2019). Single-cell analysis reveals T cell infiltration in old neurogenic niches. Nature, doi: 10.1038/s41586-019-1362-5.
    Eriksson, P.S., Perfilieva, E., Björk-Eriksson, T., Alborn ,A.M., Nordborg, C., Peterson, D.A. & Gage, F.H. (1998). Neurogenesis in the adult human hippocampus. Nat Med 4, 1313-1317.
    Sorrells, Shawn F., Paredes, Mercedes F., Cebrian-Silla, Arantxa, Sandoval, Kadellyn, Qi, Dashi, Kelley, Kevin W., James, David, Mayer, Simone, Chang, Julia, Auguste, Kurtis I., Chang, Edward F., Gutierrez, Antonio J., Kriegstein, Arnold R., Mathern, Gary W., Oldham, Michael C., Huang, Eric J., Garcia-Verdugo, Jose Manuel, Yang, Zhengang & Alvarez-Buylla, Arturo (2018). Human hippocampal neurogenesis drops sharply in children to undetectable levels in adults. Nature. doi:10.1038/nature25975.

    Quellen

    https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnLernen.shtml (09-11-11)
    http://www.focus.de/gesundheit/videos/neue-erkenntnisse-so-veraendert-sich-ihr-gehirn-wenn-sie-ein-kind-bekommen_id_4903098.html (15-09-16)
    http://derstandard.at/2000075703534/Entstehen-im-Gehirn-Erwachsener-keine-neuen-Nervenzellen-mehr (18-03-09)


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