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autobiografisches Gedächtnis


    Im autobiografischen Gedächtnis oder episodischen Gedächtnis sind die persönlichen Erlebnisse eines Menschen abgelegt und helfen ihm, sich in der Zukunft und der ­Gegenwart zu orientieren, es prägt im weitesten Sinne die Persönlichkeit eines Menschen, formt seine Identität und spiegelt die persönliche, subjektiv erlebte Lebensgeschichte wider. Das autobiografische Gedächtnis sorgt vor allem auch dafür, dass Menschen sich als konsistente Persönlichkeit erfahren.

    Das autobiografische Gedächtnis im erwachsenen Gehirn ist dabei ein neuronales Netzwerk, zu dem unter anderem der Hippocampus und präfrontale Areale gehören, wobei sich die Aktivierung dieser Regionen bei Kindern und Erwachsenen unterscheiden. Wenn man nämlich bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit wachrufen will, nutzen Kinder und Erwachsene zwar insgesamt ähnliche Gehirnregionen, doch werden bei Erwachsenen jedoch viele Areale wesentlich stärker aktiviert. Neurowissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass sich die Hirnstrukturen für das autobiografische Gedächtnis während der Kindheit und noch bis ins junge Erwachsenenalter durch Aufbau- und Abbauprozesse stark verändern.

    Das autobiographische Gedächtnis ist vermutlich dem menschlichen Selbstbild verwandt, wobei es vorwiegend jene Areale der Hirnrinde beansprucht, die zum sogenannten Ruhezustandsnetzwerk (default mode network) gezählt werden. Indem Menschen Begebenheiten aus ihren Erinnerung hervorholen, frischen sie diese auf und erzählen sich gewissermaßen selber neu. Je häufiger Menschen aber eine Begebenheit sprachlich wiedergeben, desto semantischer wird die Erinnerung, denn beim Wiederaufrufen von ursprünglich sinnlichen Erfahrungen verschiebt sich der Inhalt zum gut organisierten sprachlichen Wissen. Das zeigt sich physiologisch daran, dass sich mit dem Alter die Hirnrindenaktivität während des Erinnerns von den hinteren, sensorischen Regionen zunehmend in die vorderen, ordnenden verschiebt.

    Erinnerungen sind in diesem Netzwerk aus Hirnarealen als bestimmte Muster neuronaler Aktivität gespeichert, und will man eine Gedächtnisspur abrufen, muss man das Muster erneut aktivieren, wodurch diese immer wieder mehr oder minder leicht verändert werden. Neben Sprache und Gehirn entwickeln sich im  Alter von drei bis vier Jahren viele kognitive Schemata wie Konzepte von Zeit, Ort und Routinen, wodurch  Kinder erst die Regelmäßigkeiten ihrer Welt kennenlernen. Das ist für das autobiografische Gedächtnis wichtig, denn erst wenn man einen Eindruck von der Grundstruktur des Alltags hat, kann man spezifische Ereignisse davon abgrenzen und sich besser an sie erinnern. Auch das Bewusstsein für die eigene Person, also das Selbstkonzept, entwickelt sich erst im Alter von zwei bis drei Jahren, wodurch Kinder begreifen lernen, dass sich ihr eigenes Wissen von dem anderer Menschen unterscheidet, und allmählich beginnen können, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

    Eltern können das etwa dadurch fördern, wenn sie abends vor dem Schlafengehen mit dem Kind den Tag noch mal der Reihe nach durchgehen, wodurch das Erlebte zeitlich, örtlich und kausal strukturiert und dadurch die Bildung von Gedächtnisstrukturen erleichtert wird, die für den späteren Abruf wichtig sind. Untersuchungen zeigen, wenn Mütter detailliert mit ihrem Kind über Vergangenes sprechen, setzt seine Erinnerung früher ein, und zwar unabhängig von der  Sprachfähigkeit des Kindes, die ja eine weitere Voraussetzung für das Bilden von Erinnerungen darstellt.

    Übrigens sind viele Melodien Teil des autobiographischen Gedächtnisses, wobei diese auch Jahrzehnte später noch aktiviert werden können. Selbst bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit sind Melodien oftmals das letzte, woran sich diese noch erinnern. Andere Dinge, wie die binomischen Formeln oder die Texte neuer Pop-Songs, hat man hingegen schon nach ein paar Tagen wieder vergessen. Vor allem an Lieder, die man während der Jugend hörte, kann man sich besonders gut erinnern, denn in der Jugend, vor allem während der Pubertät, reagieren Menschen besonders emotional auf Musik. Viele Dinge passieren das erste Mal und Musik spielt auch als sozialer Faktor eine große Rolle, denn man hört diese gemeinsam mit Freunden, man geht auf Konzerte und in Clubs, sodass Melodien mit prägenden Ereignissen verknüpft werden, bestimmte davon werden darüber hinaus emotional aufgeladen. Dadurch landen manche Liedtexte und Melodien im autobiographischen Gedächtnis, werden wie andere prägende Ereignisse des Lebens sicher verwahrt und als Teil der Identität wahrgenommen. Rhythmus, Melodie und Text werden dabei von unterschiedlichen Arealen des Gehirns verarbeitet, d. h., viele Teile des Gehirns sind beim Musikhören involviert, was das Musikgedächtnis besonders robust macht, denn selbst wenn die Gehirnleistung in bestimmten Gehirnarealen nachlässt, sind noch genügend Informationen an anderer Stelle gespeichert. Hinzu kommt, dass manche dieser Melodien aus der Jugendzeit überraschend einfache Melodien aufweisen, was die Lieder noch einprägsamer und das Erinnern noch leichter macht.


    Im SPIEGEL Coaching vom Jänner 2021 fand sich eine kleine Übung, mit der man das au­to­bio­gra­fi­sche Ge­dächt­nis überprüfen kann, denn es kann durchaus sinnvoll sein, sich mit den eigenen Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend zu beschäftigen, um diese aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sie anders zu gewichten oder auch ein paar verschüttete Erinnerungen auszugraben.

    „Suchen Sie aus einer alten Fotokiste oder einem Album drei Bilder heraus, auf denen Sie in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens zu sehen sind, allein oder auch mit anderen. Schauen Sie sich die Fotos genau an und überlegen Sie, was eine typische Geschichte ist, die zu diesen Fotos passt. Was sind die überlieferten Anekdoten, wo greifen die Zuschreibungen, die Sie immer wieder gehört haben? Schauen Sie anschließend, ob es noch andere Informationen gibt, die Sie dem Foto entnehmen können. Wie könnte es noch gewesen sein an dem Tag, an dem das Foto aufgenommen wurde? Beobachten Sie sich: Welche positiven Gefühle haben Sie, wenn Sie die Fotos betrachten? Sind Sie überrascht, wie freundlich oder witzig oder entspannt Sie wirken? Wie stimmungsvoll das Bild ist? Schauen Sie auch, welches der drei Bilder die positivsten Erinnerungen und Gefühle bei Ihnen hervorruft. Nehmen Sie sich nun noch mal alle Bilder vor und überlegen Sie, ob sich Ihre Erinnerungen ein bisschen verändert haben: Nehmen Sie die Fotos nun positiver wahr? Wenn eins der Fotos für Sie eine neue Perspektive auf damalige Ereignisse eröffnet und neue positive Aspekte ans Licht gebracht hat – dann hängen Sie es zuhause an einer Stelle auf, die Ihnen oft ins Auge fällt. Falls alle drei Fotos eher negativ besetzt sind: Werfen Sie doch nochmal einen Blick in Ihr Album: Wo entdecken Sie Neues, das Sie bisher nicht in Erinnerung hatten?“


    Literatur

    McDermott, K. B., Szpunar, K. K. & Christ, S. E. (2009). Laboratory-based and autobiographical retrieval tasks differ substantially in their neural substrates. Neuropsychologia, 47, 2290-2298.
    http://www.spektrum.de/news/ab-wann-erinnern-wir-uns-an-unsere-kindheit/ (17-11-21)

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