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Kinetose

    Als Kinetose bzw. Reisekrankheit oder Bewegungskrankheit bezeichnet man die körperlichen Reaktionen wie Blässe, Schwindel, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen, die durch ungewohnte Bewegungen etwa in einem Verkehrsmittel oder in einem hohen Gebäude ausgelöst werden. Am bekanntsten sind dabei die Seekrankheit und Luftkrankheit. Die passive Bewegung in Bussen, Autos, Zügen mit Neigetechnik, Flugzeugen, Achterbahnen kann ebenfalls die Symptome einer Kinetose hervorrufen, wobei typisch ist, dass die Lenker des jeweiligen Fahrzeugs so gut wie nie von der Kinetose betroffen sind.

    Kinetos bezeichnen nach dem Pschyrembel also Symptome, die ein zentraler Mis­match visuel­ler, ve­stibulä­rer und proprio­zepti­ver Daten, z. B. im Rah­men von Flug-, See-, Auto- und Ei­senbahn­reisen, ver­ur­sacht. Es kommt v. a. zu ve­getati­ven Re­ak­tionen wie Ü­bel­keit und Er­brechen. Ver­meidung von Aus­lösern, beru­hi­gen­de Maß­nahmen und Antiemeti­ka sind hilf­reich – siehe unten.

    Der Gleichgewichtssinn braucht Informationen der Augen, des Gleichgewichtsorgans im Innenohr sowie von Muskel-, Sehnen- und Gelenkrezeptoren (Propriozeptoren), wobei diese Sinnesreize im Gehirn zusammenlaufen und dort verarbeitet werden. Widersprechen einander diese Informationen, erzeugt das im Hirnstamm ein Fehlersignal, denn so sieht etwa das Auge im Ringelspiel nicht mehr, was das Gleichgewichtsorgan im Innenohr und Lagerezeptoren im Körper wahrnehmen.

    Die Ursache dafür liegt darin, dass etwa bei starkem Seegang  das Gehirn vom Innenohr, dem Sitz des Gleichgewichtsorgans, derart viele Informationen erhält, dass es völlig überfordert ist und versucht, auf die Flut von Inputs zu reagieren, was den Körper schließlich überfordert. Die Symptome einer Kinetose verschwinden jeweils in den allermeisten Fällen, sobald die Bewegung aufhört, spätestens aber nach zwei bis drei Tagen.

    Die lange Nachwirkung kommt daher, dass das Gehirn mit der Zeit seine erhöhte Aktivität bremst und den Einfluss des Innenohrs hemmt, damit es nicht weiter von dessen Informationen überschwemmt wird. Das gibt dem Körper die Chance, sich an das neue Bewegungsgefühl zu gewöhnen, sodass mit der Zeit  etwa die ständige Bewegung des Schiffs in der Regel gar nicht mehr auffällt. Sobald man allerdings das Schiff (bekannt als Landkrankheit von Seeleuten auf Landgang) verlässt und wieder festen Boden unter den Füssen hat, muss sich das Gehirn erst wieder auf diese veränderten Bedingungen einstellen, wobei der Zeitraum jedoch erheblich variiert. Ähnliches empfindet man auch, wenn man nach einer langen Busfahrt oder Autofahrt das Gefühl hat, immer noch in Bewegung zu sein, obwohl man längst angekommen und ausgestiegen ist.

    In Fahr- und Flugsimulatoren bzw. Erlebniskinos bezeichnet man die auftretende Kinetose als Simulator Sickness und beim Spielen von Ego-Shootern als Gaming Sickness. Motion Sickness tritt daher auch häufig bei der Benutzung einer Virtual-Reality-Brille auf, und zwar bei etwa fünfzig Prozent aller SpielerInnen. Um dem entgegenzuwirken nutzt man die Methode des „Redirected Walking„, der aus verschiedenen Bestandteilen besteht. Zum einen wird der reale Pfad des Spielers so gebogen, dass er leicht anders verläuft als der virtuelle, wobei man eine Wahrnehmungsschwelle ausnutzt, denn eine Änderung von fünf Grad pro Meter nimmt ein Spieler oder eine Spielerin gar nicht wahr. Zusätzlich wird mit überlappenden Räumen gearbeitet, d. h., im Sichtfeld wird eine Überlappung von weniger als fünfzig Prozent von NutzerInnen gar nicht bemerkt. Allerdings: Je schneller allerdings die Bewegung in der virtuellen Realität ist, desto schwieriger wird es für den Algorithmus, dieses Phänomen zu kompensieren, sodass es vor allem in Rollen-, Rätsel- und Adventure-Spielen genutzt werden könnte.

    Einige Medikamente helfen gegen die Reisekrankheit, wobei viele einschlägige Produkte den Wirkstoff Diphenhydramin enthalten, der jedoch müde und träge macht, sodass man sie etwa als Autofahrer nicht einnehmen darf. Tabletten gegen Reiseübelkeit helfen am besten, wenn sie eine halbe bis eine Stunde vor Reisebeginn eingenommen werden. Mittel mit Ingwerextrakt, das Seefahrer traditionell gegen Reisekrankheit einsetzen, ist wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. Zu den Wirkstoffen, die gegen Reiseübelkeit zum Einsatz kommen, gehören hauptsächlich die Antihistaminika Dimenhydrinat, Meclozin und Cinnarizin sowie das Parasympatholytikum Scopolamin. Dimenhydrinat ist in Form verschiedener Reisetabletten, Zäpfchen, Retard-Kapseln, als Sirup und sogar Kaugummi erhältlich.  Manche Antihistaminika reduzieren die Wirkung von Histamin, das unter anderem den Brechreiz anregt, jedoch sollte man vor Reiseantritt daher möglichst auf den Genuss von Alkohol, Nikotin und Kaffee verzichten, wobei besonders Rotwein eine hohe Konzentration des brechreizanregenden Histamins enthält. Tabletten, Zäpfchen, Kaugummis und Pflaster lindern zwar den Brechreiz, können aber Nebenwirkungen wie Schwindelgefühl, Mundtrockenheit und erhöhten Herzschlag verursachen. Vor der Anwendung solcher Medikamente sollte man immer den Arzt fragen. Naturheilkundler empfehlen homöopathische Mittel wie Cocculus-Kügelchen, doch ist die Wirkung solcher Präparate umstritten.

    Scopolamin wird als rezeptpflichtiges Pflaster ärztlich verschrieben. Das Pflaster gegen Reiseübelkeit wird üblicherweise vier bis acht Stunden vor Reisebeginn hinter das Ohr geklebt. Während Schwangerschaft und Stillzeit sollten Sie besonders vorsichtig sein und Medikamente gegen Reiseübelkeit nur nach ärztlicher Rücksprache einnehmen.

    Ingwerwurzel verursacht im Gegensatz zu vielen anderen Mitteln keine Müdigkeit und Reaktionsverlangsamung. Eingesetzt wird Ingwer in frischer und getrockneter Form sowie als Kapseln. In der Homöopathie wird Cocculus gegen Reiseübelkeit empfohlen. Anders als bei Ingwerwurzel, gibt es für homöopathische Mittel jedoch keine wissenschaftlichen Daten zur Wirksamkeit. Im Einzelfall sind sie aber vielleicht einen Versuch wert, da die Nebenwirkungen gering sind.

    An der Stanford Universität wird derzeit ein Virtual-Reality-Headset entwickelt, das mit Hilfe der Light Field Stereoscope-Technologie die Kinetose minimieren soll. Dabei kommen zwei separate Displays zum Einsatz, wodurch die Person selber bestimmen, was scharf angezeigt wird, da sie dadurch wie in der realen Welt das Gezeigte fokussiert. Konzentriert sich die Person auf den Hintergrund, so erscheint dieser scharf und der Vordergrund als unscharf bzw. umgekehrt. Trainings zur Desensibilisierung bei Reisekrankheit sind aber zeitintensiv und aufwändig, deshalb werden sie bisher eigentlich nur für Militärpiloten und -pilotinnen empfohlen. Einige Studien konnten jedoch zeigen, dass es Menschen, bei denen eine Störung des Gleichgewichtssinns vorliegt, gelang, mithilfe eines Virtual-Reality-Spiels ihre Symptomstärke zu verringern. Denn auch in der virtuellen Realität stimmt das Bild, das unsere Augen wahrnehmen, nicht mit unseren Körperbewegungen überein. So tritt nach einer Weile der gleiche Effekt wie bei der Reisekrankheit ein. In der Zukunft könnten also virtuelle Trainings gegen Reiseübelkeit entwickelt werden.

    Tipps: Im Autobus, im Automobil und im Zug sollte man in der Ferne einen festen Punkt fixieren, sich am Schiff eher in der Mitte an Deck aufhalten und dabei den Horizont fixieren. Im Autobus spielt auch die Blickrichtung eine Rolle, denn wer in Fahrtrichtung sitzt und aus dem Fenster schaut, fühlt weniger Übelkeit. Gegen Turbulenzen im Flugzeug soll ein anderer Trick helfen: Wenn Turbulenzen auftreten, nimmt man ein Stück Papier und einen Bleistift zur Hand und versucht mit der „falschen“ Hand zu schreiben. Dadurch wird sich das Gehirn auf etwas völlig Ungewohntes konzentrieren, dass die motorischen Funktionen im Gehirn so irritiert werden, dass die Turbulenzen nicht so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

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    Kleinkinder sind weniger empfindlich

    Kleinkinder besitzen einen natürlichen Schutz, bis sie beginnen, sich selbstständig zu bewegen. Dass Kinder Dreh- und Schwingbewegungen besser ertragen als Erwachsene liegt vermutlich daran, dass der Gleichgewichtssinn bei ihnen noch nicht fertig entwickelt ist. Bei Kindern ist die Entwicklung des Gleichgewichtssystems noch nicht abgeschlossen, wobei für sie vor allem Informationen aus Muskel-, Sehnen- und Gelenkrezeptoren im Inneren des Körpers wichtig sind und dem Gehirn ständig die Position im Raum melden, während der Einfluss von Augen und Ohren noch geringer ausgeprägt ist als bei Erwachsenen. Erst bei jungen Erwachsenen ab dem 15. oder 16. Lebensjahr sind der Sehsinn und der Gleichgewichtssinn des Innenohrs – eines der entwicklungsgeschichtlich ältesten Rezeptorsysteme – fertig ausgebildet. Drehen, Schaukeln und Wippen sind bei Kindern wichtig für die körperliche und geistige Entwicklung, denn sich solchen Situationen auszusetzen regt das Gleichgewichtsorgan an und trainiert es. Kinder lernen so Bewegungskoordination und entwickeln ein positives Körpergefühl, wobei Studien zeigen, dass sich Kinder mit einem gute ausgeprägten Gleichgewichtssinn auch besser konzentrieren können. Kinder sind dennoch nicht vor einer Kinetose gefeit, denn im Vergleich zum gleichmäßigen Drehen oder rhythmischen Schwingen auf dem Spielplatz sind Boot-, Auto- oder Busfahren sehr komplexe Bewegungsmuster, die zu einer Reihe von Fehlersignalen über eine längere Dauer führen, was auch daran liegen kann, dass sie im Vergleich zum Lenkenden keine Kontrolle über die Bewegung besitzen. Mit zunehmendem Alter nimmt die Anfälligkeit zwar wieder etwas ab, wobei sich die Widerstandsfähigkeit auch durch häufige Achterbahnfahren ein wenig trainieren lässt, völlig immun wird man dadurch aber nie. Dennoch leiden viele Kinder an Kinetose und müssen sich besonders bei Autofahrten häufig übergeben, was vermutlich daran liegt, dass deren Gehirn die verschiedenen Sinneseindrücke noch nicht richtig verarbeiten kann. Um der Übelkeit vorzubeugen kann man auf Ablenkungsmanöver setzen und das Kind animieren, möglichst viel nach draußen zu schauen, denn dann melden auch die Augen dem Gehirn Bewegung und der Brechreiz nimmt ab. Auch Kauen vermindert die Symptome, und Kinder sollten in Fahrtrichtung sitzen, nicht lesen und keine elektronischen Geräte benutzen, es sollte für frische Luft gesorgt werden und keine unangenehmen Gerüche sollten im Fahrzeug sein.

    Wenn Kinden schnell schlecht wird, sollten diese im Auto oder Bus möglichst vorne sitzen, denn dort müssen sie fast zwangsläufig nach draußen schauen. Im Flugzeug sind Sitzplätze auf Höhe der Tragflächen am besten, da es dort am wenigsten wackelt. Angeblich kann auch Akupressur helfen, wobei der Punkt, der in diesem Fall bearbeitet werden sollte, am Unterarm sitzt, etwa drei Finger breit über der Handgelenksfalte zwischen Elle und Speiche. Dort kann man mit dem Daumen drücken. Gegen Reisekrankheit gibt es auch spezielle Armbänder mit einer Plastik-Halbkugel.


    Kindern empfiehlt eine englische Reisemedizinerin vor einer Fahrt „Toast mit Erdbeermarmelade“, denn der verhindert zwar nicht das Übelsein oder gar den Brechreiz, schmeckt jedoch im Fall des Falles weniger unangenehm 😉


    Kurioses: Brille gegen Reisekrankheit

    Ein Autohersteller hat eine Brille ohne Gläser entwickelt, die gegen Reisekrankheit hilft, wobei diese medizinisch patentierte Brille bei 95 Prozent der Betroffenen wirken soll. Die Brille erzeugt mithilfe einer Flüssigkeit, die sich in Ringen vor den Augen und seitlich davon bewegt, einen künstlichen Horizont, der den Konflikt der Sinnesorgane auflösen soll. Man sollte die Brille aufsetzen, wenn die ersten Symptome auftreten, und soll dem Gehirn helfen, die unterschiedlichen Sinneseindrücke zu synchronisieren. Die Brille kann ab einem Alter von zehn Jahren benutzt werden, da ab diesem Alter ist das Innenohr vollständig ausgebildet.

    Weiteres Kurioses: Auch Mäuse werden übrigens reisekrank, denn Machuca-Márquez et al. (2023) konnten die zentrale Rolle von Cholecystokinin für bewegungsinduziertes Unwohlsein bei Mäusen nachweisen, die rotiert worden waren: Einige Mäuse zeigten nach der Rotation Symptome der Reisekrankheit: Die Körpertemperatur der Tiere sank, sie mieden das Fressen und kauerten sich in ihren Käfigen zusammen. Die Analyse der Zellen im Gehirn der Tiere zeigte, dass bestimmte Nervenzellen aktiv waren, wenn die Mäuse Krankheitssymptome zeigten. Einige dieser Nervenzellen produzierten das Protein VGLUT2, und die Inaktivierung von Neuronen, die das Protein VGLUT2 enthielten, unterdrückte die meisten Symptome der Reisekrankheit.

    Literatur

    Machuca-Márquez, Pablo, Sánchez-Benito, Laura, Menardy, Fabien, Urpi, Andrea, Girona, Mònica, Puighermanal, Emma, Appiah, Isabella, Palmiter, Richard D., Sanz, Elisenda & Quintana, Albert (2023). Vestibular CCK signaling drives motion sickness–like behavior in mice. Proceedings of the National Academy of Sciences, 120, doi:10.1073/pnas.2304933120.
    https://kurier.at/wissen/gesundheit/reisekrankheit-eine-brille-ohne-glaeser-soll-helfen/400067501 (18-07-18)
    https://www.n-tv.de/technik/Hamburger-Start-up-bekaempft-VR-Krankheit-article21219198.html (19-08-23)
    https://www.adac.de/reise-freizeit/ratgeber/reisemedizin/reiseuebelkeit-im-auto/ (23-05-24)

    Teilweise zusammengefasst nach einem Artikel von Alice Grancy, die ein Gespräch mit Erich Vyskocil von der Wiener Uni-Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten für “Die Presse“ vom 13. Februar 2016 führte.


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    Ein Gedanke zu „Kinetose“

    1. Populäre Tipps gegen Reisekrankheit

      Nach einem populärwissenschaftlichen Magazin ist Ablenkung die beste Medizin, doch ist Lesen oder Videos schauen am Handy oder Tablet keine gute Idee, denn mit diesen Aktivitäten verwirrt man das Gehirn noch mehr. Hilfreicher sind Spiele wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“, das Mitsingen von Liedern oder aber Kennzeichen raten. Auch der richtige Sitzplatz kann viel ausmachen, wobei man im Auto und der Bahn möglichst vorne sitzen sollte, und das stets in Fahrtrichtung. Im Flugzeug hilft die Wahl des Sitzplatzes, denn man sollte nie ganz vorne oder hinten im Flugzeug sitzen, sondern ehr ein Platz am Gang in der Nähe der Tragflächen, da es dort nicht ganz so sehr wackelt. Auch auf dem Schiff hält man sich am besten in der Mitte auf, denn dort ist der Seegang nicht zu sehr zu spüren.

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