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Massenpsychologie

    Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären versucht, stets ihr Opfer.
    Gustave Le Bon

    Massenpsychologie ist ein Teilgebiet der Sozialpsychologie und beschäftigt sich mit dem Verhalten von Menschen in größeren Menschenansammlungen. Ausgang für die Theorienbildung der Massenpsychologie ist die Erfahrung, dass große Menschenmassen ein oft überraschendes und irrational erscheinendes Verhalten zeigen, etwa die Auslösung einer Panik aufgrund eines eher unbedeutenden Anlasses.

    In dem Klassiker „Psychologie der Massen“ stellt Gustave Le Bon die Grundbegriffe des Massenverhaltens dar und kann daher als Begründer der Massenpsychologie angesehen werden. Er verstand seine Arbeit als die erste systematische Auseinandersetzung mit der Masse als psychologisch erfassbarem Gegenstand. Seine radikale Grundthese war, dass die Masse eine Form der rationalen menschlichen Existenz sei und eine allgemeinmenschliche Erscheinung. Er postuliert charakteristischer Merkmale der Massenseele wie das psychologische Gesetz der seelischen Einheit, wobei sich in der Kollektivseele die intellektuellen Fähigkeiten und damit die Individualität der Individuen vermischen und die Intelligenz der Einzelnen reduziert wird. Deshalb verhalten sich Einzelne bisweilen in der Masse, wie sie es als Individuen nie tun würden.

    Le Bon versucht in seinem Werk das Gefühl und die Moral der Massen, ihre Impulsivität und Intoleranz, und vor allem ihren Autoritarismus und Konservativismus zu erklären, alles– Merkmale, die die Masse zum geeigneten Spielball von Demagogen machen. Jede Masse entwickelt eine eigene Sittlichkeit, die dazu führt, dass die Interessen Einzelner den Interessen der Gemeinschaft untergeordnet werden, was auch das oft heroische Verhalten von Massen erklären kann. In der Analyse der spezifischen Einflussfaktoren von Führern auf die Anschauungen der Masse, deren Methoden der Kontrolle wirken angesichts der totalitären Geschichte des 20. Jahrhunderts geradezu prophetisch. Auch Sigmund Freud bezog sich in seinen Arbeiten zur Massenpsychologie explizit auf Le Bon.

    Le Bon prägte über Jahrzehnte das Bild vom Menschen als Herdentier, der in großen Gruppen nicht mehr er selbst ist, zum Automaten geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat, wobei Adolf Hitler das Werk gelesen und Teile seiner Propagandatheorie darauf aufgebaut hatte, und Benito Mussolini sich von ihm inspirieren ließ. Teilweise enthält das Werk eine rechte genaue Propagandaanleitung, die dann im Faschismus zum Leben erwacht ist und in gewissem Maße funktioniert hat. Le Bons Theorie wird heute aber von nicht wenigen als überspitzt, vereinfachend und unzureichend begründet kritisiert, denn die Psychologie der Massen ist mehr eine Folge plausibler und logisch erscheinender Überlegung als wissenschaftliche Analyse.

    Übrigens haben auch Volksfeste wie das Münchner Oktoberfest den Charakter von Massenveranstaltungen mit Sogwirkung. Die Münchner Sozialpsychologin Brigitte Veiz hat dieses größte Volksfest der Welt in ihrer Arbeit „Das Oktoberfest – Masse, Rausch und Ritual“ tiefenpsychologisch analysiert und dabei auf die Überlegungen von Sigmund Freund und Elias Canetti zur Psychologie der Massen Bezug genommen. Sie erklärt, dass ein Großereignis wie das Oktoberfest angeborene Abwehrmechanismen und anerzogene Antipathien außer Kraft setzt, ist und dass das Individuum in der Masse aufgeht, wobei viele Menschen es genießen, zum Teil einer Masse zu werden, wenn diese dasselbe Ziel hat wie sie selbst, was man in Fußballstadien gut nachvollziehen kann. Im Fall des Münchner Oktoberfestes ist es das Ziel zu feiern, bis ein kollektiver Glückszustand erreicht ist, wobei sie sich vom Sog des Oktoberfests mitreißen lassen und dampfende Bierzelte, höllisch laute Blasmusik und anhängliche Banknachbarn wenigstens einen Abend lang als Riesengaudi empfinden.

    Menschen innerhalb einer Masse erfahren in der Regel einen Verlust von Verantwortungsgefühl durch steigende Anonymität, was etwa in Bezug auf den Klimawandel bedeutet, dass Menschen sich weniger für ihr eigenes Handeln verantwortlich fühlen, und zwar einerseits, weil man wohl nicht als Einzelner für die Folgen des Klimawandels verantwortlich gemacht werden kann, und andererseits, weil man immer sagen kann, dass alle anderen genauso wenig machen wie man selbst.

    Prozessionen

    Eine Sonderform einer Massenansammlung sind Prozessionen, die aus verschiedenen Gründen veranstaltet werden. Ein häufiger Grund ist die Feier religiöser Feste oder Rituale, bei denen Gläubige gemeinsam durch die Straßen ziehen und ihre Glaubensbekundungen zum Ausdruck bringen. Prozessionen können auch zu politischen oder kulturellen Anlässen veranstaltet werden, um Solidarität oder Unterstützung für bestimmte Themen oder Ideen zu zeigen. Ein weiterer Grund für Prozessionen ist das Feiern von Triumphen oder Erfolgen, wie z.B. ein Sieg in einem Krieg oder ein gewonnener Wettbewerb. Menschen marschieren, paradieren und demonstrieren dabei also für ihren Glauben, ihre Meinungen, Haltungen und Wünsche, finden sich in Mengen, als Scharen und in Prozessionen zusammen, ihre Körper formieren sie dabei zu einem einzigen, dem Körper der Masse. Im antiken Griechenland zeigt sich der staatstragende, vergemeinschaftende Sinn unterschiedlicher Prozessionen, die von ausgefeilten römischen Triumphzügen noch übertroffen wurden. Wie Rom das griechische Umzugserbe aufgreift, variiert, umformt, wird später das Christentum nach anfänglicher Verteufelung der Umzugstradition zur eifrigen Prozessionsreligion. Später wurde Venedig zur Stadt der Prozessionen inklusive Karnevalsumzügen. Ob mittelalterliche Herrschereinzüge, die neuartigen Feste der Französischen Revolution, die politischen Feste im vornationalen Deutschland, erst die Masse gab ihnen Gewicht, so wie umgekehrt die Masse durch sie formiert wird, und das zu gänzlich verschiedenen Zwecken. In der Weimarer Republik wird gemeinsames Gehen endgültig zur Demonstration, unter Hitler zum strikt regulierten säkularen Kult, 1968 wie später bei Pegida zum Angriff aufs verhasste System, 1989 zur friedlichen Revolution. Nach Göttert (2023) gibt es bei Prozessionen etwas Überzeitliches, eine Universalie des gemeinschaftlichen Gehens, wobei Überzeugung, Wahrheit immer auch etwas mit der Zahl derer zu tun hat, die sie vorbringen oder vertreten.

    Aktuell haben sich viele Massenphänomene ins Virtuelle verlagert, denn so formen sich in den sozialen Medien große Bewegungen, wobei sich angesichts dort kursierender zahlreichernVerschwörungstheorien bekräftigen lässt, dass auch Fakten eine Masse nicht umstimmen können, denn nach Le Bon erscheint der Masse nichts unwahrscheinlich. Diesen Aspekt darf man nicht außer Acht lassen, wenn man verstehen will, wie leicht die auch absurdesten und unwahrscheinlichsten Legenden und Berichte zustande kommen und sich verbreiten. Ein Redner, der die Masse hinreißen will, darf niemals den Versuch machen, einen Beweis zu erbringen, so Le Bon.

    Siehe auch Massenpanik und emotionale Ansteckung.

    Literatur

    Göttert, Karl-Heinz (2023). Massen in Bewegung: Über Menschenzüge. Die Andere Bibliothek. https://www.deutschlandfunkkultur.de/karl-heinz-goettert-massen-in-bewegung-ueber-menschenzuege-100.html (23-01-24)
    Stangl, W. (2023, 24. Jänner). Warum Menschen Prozessionen veranstalten. arbeitsblätter news.
    https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/warum-menschen-prozessionen-veranstalten/.
    http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/psychologie/tid-19819/oktoberfest-psychologie-der-sog-des-wiesn-wahnsinns_aid_550953.html (10-09-30)


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